Autor Thema: Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?  (Gelesen 9027 mal)

Offline Susanne

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Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?
« am: Juni 17, 2007, 12:07 »
Sag mal lieber Erklärbär

ab wann hat man denn einen Hypo?  Es gibt ja Leute, die sagen, sie spüren 45 mg% Bz gar nicht - und es gibt welche, die zittern und schwitzen schon bei 150,mg%ß

Das ist doch komisch, oder?

Susanne
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Offline Joerg Moeller

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Re: Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?
« Antwort #1 am: Juni 18, 2007, 12:03 »
Radio Eriwan würde sagen "Das kommt darauf an".

Dazu muss man erstmal wissen, was das überhaupt soll mit dieser Hypo.

"Hypo" ist ja die griechische Vorsilbe für "Unter" und eigentlich meinen wir Diabetiker damit "Hypo-glyk-ämie".
'Glyk' deutet darauf hin, daß es mit Zucker zu tun hat, 'ämie' sagt, es hat mit dem Blut zu tun. Also eine "Unterzuckerung im Blut"

Zucker wird ja von vielen Körperzellen zu Energie umgewandelt, mit der die Zellen dann funktionieren können. Keine Energie - keine Funktion. Deswegen können manche Zellen Energie speichern (z.B. als Glyko-gen = "aus Glucose entstanden") um so einen Versorgungsengpaß auszugleichen.

Manche Zellen können das aber nicht. Und das sind vor allem die Nervenzellen. Aus diesen Nervenzellen besteht ja auch das Gehirn, und das steuert so lebenswichtige Dinge wie z.B. die Atmung, das Denken, das Bewußtsein.
Jetzt kann man sich schon denken: wenn das Gehirn ausfällt, dann wird es lebensgefährlich.

Deswegen hat das Gehirn jede Menge Melder, die ständig überwachen ob auch noch genug Zucker im Blut ist. Wenn nicht, dann schlagen die Alarm, indem sie ein paar Hormone ausschütten:z.B. Adrenalin und Cortisol

Adrenalin ist unter anderem eine Nachricht an die Leber:"Hey, wir brauchen mehr Zucker, gib mal was aus deinem Speicher ab".

Cortisol hingegen sagt den Muskelzellen "Sorry, aber wir haben hier im Gehirn einen Notfall, lasst uns ein bißchen mehr Zucker übrig". (Für die Fachleute: das tut es, indem es die Insulinwirkung herabsetzt, so daß pro Insulinmolekül weniger Zucker in die Muskelzelle gelangt)

Adrenalin hat aber auch noch andere Wirkungen: Es erhöht die Herzfrequenz und den Blutdruck, bringt die Muskeln zum Zittern und die Schweißdrüsen dazu, mehr Schweiß abzusondern. Das ist das, was wir als Hyposymptome kennen.

Und warum fühlt man sich bei einer Hypo irgendwie benommen?
Das sind schon die ersten Anzeichen des Energiemangels im Gehirn. Da findet dann schon ein Umverteilung statt: Denken ist nicht so wichtig wie Atmen. Also wird bevorzugt das Atemzentrum im Kleinhirn versorgt.

Und jetzt zum Wichtigsten:

Der Körper lernt mit der Zeit, wieviel Zucker im Blut normal ist. Das kann man sich vorstellen wie in einer Badewanne: wenn man die mit heißem Wasser füllt und sich hineinsetzt ist es erstmal ganz schön heiß und man lässt sich nur zentimeterweise hineingleiten. Aber nach ein paar Minuten hat man sich daran gewöhnt und es ist behaglich.

So geht es auch den Helfern des Gehirns: die merken z.B. "Aha, der BZ ist ständig bei 400 mg/dl (22 mmol/l), da wird das schon normal sein".
Wenn jetzt der BZ sinkt, dann geht es für diese Helfer auf "unter normal" und sie fangen an sich zu rühren, um den Normalzustand wieder herzustellen.
Diese Helfer sind aber ziemlich schlau: sie können sich ausrechnen, wie lange es dauert von "ein bißchen unter normal" bis hin zu "lebensgefährlich unter normal".

Das ist wie in der Badewanne: wenn man nichts tut wird das Wasser langsam abkühlen und irgendwann denkt man sich "Hmm, ich könnte vielleicht mal ein bißchen warmes Wasser nachfüllen". Und irgendwann denkt man sich das nicht mehr nur, dann tut man das auch.
Anders wenn einen jemand ärgern will und einen großen Eimer Eiswasser in die Wanne kippt. Dann zuckt man sofort zusammen und versucht entweder aus der Wanne auszusteigen oder dreht sofort das warme Wasser voll auf. Warum? Weil sich die Temperatur schlagartig gesenkt hat.

Genauso machen es die Helfer beim BZ: wenn der schnell sinkt, dann schütten die nicht ein bißchen Hormone aus, die man auch - wenn überhaupt - nur ein bißchen bemerkt: die drehen ihren Hahn sofort voll auf und dann sind auch die Symptome viel heftiger.
Ist ja logisch: wenn ich weiß, daß der Bus in 30 Minuten abfährt und ich 1km entfernt bin, dann kann ich mir Zeit lassen.
Fährt er aber bei derselben Entfernung in 3 Minuten ab, dann muß ich schon lossprinten, um den nicht zu verpassen.

Zusammengefasst:

Je höher der durchschnittliche BZ, desto höher die Hyposchwelle, ab der der Körper Hormone ausschüttet um zu reagieren (und die wir dann als Hypo bemerken)

Je schneller der BZ sinkt, desto mehr Hormone werden ausgeschüttet und desto stärker bemerken wir die Hypo.

Deswegen kommt es bei der Beantwortung der Frage "Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?" darauf an: wie hoch ist der durchschnittliche BZ und wie schnell sinkt der BZ aktuell gerade ab.
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Offline Robert

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Re: Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?
« Antwort #2 am: Juni 18, 2007, 16:32 »
 :klatsch:

Super erklärt,Klasse :prost:

Offline Joerg Moeller

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Re: Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?
« Antwort #3 am: Juni 18, 2007, 17:37 »
Oh, danke :verlegen:
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Offline Carrie

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Re: Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?
« Antwort #4 am: Juni 23, 2007, 13:32 »
Zu diesem Thema ist mir mal folgendes passiert:
Ich saß an einem Sonntagvormittag ganz ruhig zu Hause im Wohnzimmer und war am lesen. Von einer Sekunde zur anderen setzten auf einmal heftige Hyposymptome ein. Herzrasen, Schwitzen, Zittern usw.
Sofort habe ich mein Messgerät geholt und der gemessene BZ war 100.  ???
Die Hyposymptome hielten noch etwas an, ungefähr die gleiche Zeit die ich bis zur Messung gebraucht habe. Das Ganze hat schätzungsweise 3-4 Minuten gedauert, danach waren die Symptome so schlagartig vorbei wie sie gekommen sind. Weil ich wissen wollte, was los war, habe ich sofort nochmal gemessen und der gemessene BZ war dann 74. Meine Vermutung ist, dass der BZ bei einsetzen der Hyposymptome bei ca. 125 lag und dann schlagartig gesunken ist. Generell merke ich Blutzuckerschwankungen ziemlich stark, aber dieser Vorfall war schon recht heftig.

Viele Grüße,
Carrie

Offline Joa

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Re: Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?
« Antwort #5 am: Juni 25, 2007, 00:36 »

Ich saß an einem Sonntagvormittag ganz ruhig zu Hause im Wohnzimmer und war am lesen. Von einer Sekunde zur anderen setzten auf einmal heftige Hyposymptome ein. Herzrasen, Schwitzen, Zittern usw.
Sofort habe ich mein Messgerät geholt und der gemessene BZ war 100.  ???

Hypos hängen primär von der Glucoseversorgung im Gehirn ab.
Was Du messen tust, ist die Glucosekonzentration im Zwischenzellwasser/Kapillarbult der Blutentnahme.

Es kann also durchaus sein, dass Dein Brain akut unter Glucosemangel leidet, die Fingerspitzen aber noch auf 100 mg/dl stehen.

Es dauert dann eine gewisse Zeit, bis die Glucosekonzentrationen in den verschiedenen Körperregionen sich (halbwegs) einander angeglichen haben (Homöostase).

Zitat

Die Hyposymptome hielten noch etwas an, ungefähr die gleiche Zeit die ich bis zur Messung gebraucht habe. Das Ganze hat schätzungsweise 3-4 Minuten gedauert, danach waren die Symptome so schlagartig vorbei wie sie gekommen sind. Weil ich wissen wollte, was los war, habe ich sofort nochmal gemessen und der gemessene BZ war dann 74. Meine Vermutung ist, dass der BZ bei einsetzen der Hyposymptome bei ca. 125 lag und dann schlagartig gesunken ist.


Das könnte dafür sprechen, dass der Blutzuckergehalt an Deiner Meßstelle abgesunken ist, weil ein Teil der Glucose homöostatisch in den großen Blutkreislauf und somit in Richtung Gehirn abgezogen worden ist.
Solche relativ blitzartig auftretenden Insulinwirkungseintritte sind grade am Vormittag nicht ungewöhnlich, insbesondere wenn vorangehend hormonelle Ausschüttungen aus Dawn, Aufstehphänomen oder so, nicht ausreichend mit Insulin gedeckt waren.

Gruß
Joa
« Letzte Änderung: August 22, 2007, 21:52 von Joa »
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Offline Joerg Moeller

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Re: Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?
« Antwort #6 am: Juni 25, 2007, 13:40 »

Was Du messen tust, ist die Glucosekonzentration im Zwischenzellwasser/Kapillarbult der Blutentnahme.


Nö, nur im Kapillarblut. (Es sei denn man quetscht wie ein Weltmeister das Blut aus dem Finger)

Zitat
Das könnte dafür sprechen, dass der Blutzuckergehalt an Deiner Meßstelle abgesunken ist, weil ein Teil der Glucose homöostatisch in den großen Blutkreislauf und somit in Richtung Gehirn abgezogen worden ist.
Solche relativ blitzartig auftretenden Insulinwirkungseintritte sind grade am Vormittag nicht ungewöhnlich, insbesondere wenn vorangehend hormonelle Ausschüttungen aus Dawn, Aufstehphänomen oder so, nicht ausreichend mit Insulin gedeckt waren.


Prima: und das ganze jetzt bitte nochmal in der Erklärbär-Variante (hier in diesem Board bitte kein Fachchinesisch :zwinker: )
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Offline Joa

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Re: Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?
« Antwort #7 am: Juni 25, 2007, 19:40 »
Nö, nur im Kapillarblut.

Einverstanden. Der Anteil des Zwischenzellwassers (ZZW) in der Meßsuppe dürfte zu vernachlässigen sein.
Zitat

... das ganze jetzt bitte nochmal in der Erklärbär-Variante (hier in diesem Board bitte kein Fachchinesisch

 :kratz:  :kratz: Ok, let's try:

Der Körper ist bemüht, in allen Geweben und Gefäßen den Idealzustand einer einheitlichen Stoffkonzentration überall herzustellen. Das funktioniert über den Blutkreislauf. Enthält das Blut also mehr Glukose als das umliegende Zellgewebe, wandern die Zuckermoleküle durch die Zellwände der Kapillargefäße in das Gewebe und ebenso umgekehrt. Das ganze Geschehen wird fachchinesisch als der Prozess der Homöostase (irgendwas griechisches für Gleichgewicht/Gleichstand) bezeichnet.
Es kann also durchaus vorkommen, dass Du am Finger einen satten 100er Wert ermittelst, während das Gehirn tatsächlich im Unterzucker dümpelt.
Das Gehirn braucht mindestens eine Glucosekonzentration von 40 mg/dl um noch überall rund zu laufen. Dabei ist die Grenze des dem Gehirn zuströmenden Blutes bei mindestens 50 mg/dl anzusetzen. Alles darunter reicht für die grauen Zellen nicht mehr aus.

Das Ganze lehrt uns, dass der gemessene Blutzuckerwert für sich alleine keine Aussage über eine vorliegende Hypo erlaubt. Da hilft nur Deine Wahrnehmung.
Btw. ist der einzige wirklich zuverlässige Indikator für eine Hypo das Prickeln/die Taubheit der Lippen, Zungenspitze (und ggf. auch der Oberkieferzähne), da der versorgende Nerv die direkteste Verbindung zum Gehirn hat.

Wenn Du eine Hypowahrnehmung hast, und einen Wert von 100 messen tust, darfst Du allerdings recht entspannt bleiben weil Du erwarten kannst, dass der Nachschub zur Leitzentrale rollt. In diesem Fall kannst Du dann eher vorsichtig zufuttern.

Enger wird es bei deutlicher Hypowahrnehmung und einem 45er an der Fingerbeere.
Ich täte dann schon mal zu 250 ml Traubensaft greifen. Hängt natürlich auch noch mit den weiteren Faktoren zusammen. Vorangegangene Kohlehydratzufuhr, Insulingabe, Bewegungsniveau etc. etc. ...

Grüße
Joa
« Letzte Änderung: August 22, 2007, 21:40 von Joa »
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Offline nuetzele

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Re: Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?
« Antwort #8 am: Juni 25, 2007, 20:27 »

Btw. ist der einzige wirklich zuverlässige Indikator für eine Hypo das Prickeln/die Taubheit der Lippen, Zungenspitze (und ggf. auch der Oberkieferzähne), da der versorgende Nerv die direkteste Verbindung zum Gehirn hat.


Übrigens:  Btw. heißt: By the way (englisch) und bedeutet  übrigens (deutsch)   ;D  :heilig:

http://www.dict.cc/deutsch-englisch/%FCbrigens.html
Viele Grüße Rainer

Offline vreni

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Re: Bei welchen Werten hat man denn eine Hypo?
« Antwort #9 am: Juni 25, 2007, 21:44 »
so Btw. Joa danke, es ist der erste Beitrag von Dir, den ich glaube zu verstehen  :D